Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Heute verantwortet sie die medico-Sprache, das Rundschreiben und bloggt regelmäßig auf der medico-Website.
Für Anfragen können Sie Katja Maurer hier erreichen: kmaurer@posteo.de
Vom Umgang mit der Krise und hilft radikaler Antikapitalismus? Vortrag im Rahmen der Tagung „Leben am Rande von Krieg und Zivilisationskrise“ von Kairos E.V. (15.11.2024)
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
als ich mit diesem Vortrag beschäftigte, fragte ich mich, ob es überhaupt gelingen kann, geschweige denn mir, in dieser Zeit, in der alle Gewissheiten umstürzen, einen konsistenten Vortrag zu halten. Das, was ich vortrage, ist also lediglich ein Versuch der Annäherung. Ich werde hier weniger über den Kapitalismus reden, jedenfalls in einem offensichtlichen Sinne, sondern eine Krisenbeschreibung und einen möglichen Umgang damit versuchen.
Ein anderer Aktivismus, eine andere Erinnerungskultur.
Die Sommerhitze ist in New York schon im Juni unerträglich. Weltweit ist der New Yorker „Heat Dome“ in den Nachrichten. Die Verankerung einer Drehbrücke über den Harlem River schmilzt in der Hitze und blockiert stundenlang. Vor der Zentrale der Citibank in der Wallstreet, die seit Corona wie leer gefegt ist, demonstrieren seit Wochen Klimaaktivst:innen. Mit anderen Gruppierungen formieren sie sich zu immer neuen Bündnissen. So legen sich pünktlich zum Hitzedom grauhaarige Herrschaften zu einem Die-in vor die Bankzentrale. Wer stirbt an der Hitze zuerst? Die Alten. Ziel der sturen, sich mit schöner Regelmäßigkeit wiederholenden Aktionen vor der Citibank, einem der größten Finanzdienstleister der Welt, ist das Ende der Investitionen in klimaschädliche Unternehmen und Produktionen.
Haiti war einst die Verheißung einer anderen Moderne. Nun treibt die Welt das Land weiter in den Abgrund.
Wenn es ein Land gibt, das paradigmatisch die Möglichkeit einer anderen Moderne verkörpert, ist das Haiti. Die haitianischen Sklavenaufstände, die zeitgleich mit der französischen Revolution in der wichtigsten Kolonie Frankreichs stattfanden, wurden durch diese inspiriert und erweiterten sie im gleichen Zug. Wenn „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Slogan der Moderne ist, so ist der Zusatz „für alle“ die radikale Erweiterung, die die haitianische Revolution ihr hinzufügte. Der „radikale Universalismus“, den der israelische Philosoph Omri Boehm heute als Grundlage allen politischen Handelns und theoretischen Denkens vorschlägt, ist historisch gegründet in der abolitionistischen, also radikal-antirassistischen Anti-Sklaverei-Bewegung, die immer auch eine Möglichkeit der Moderne war.
Am 23. Mai wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Doch zum Feiern gibt es wenig Anlass, so Albrecht von Lucke: Heute, in einer radikal veränderten Welt, muss sich die Bundesrepublik völlig neuen Herausforderungen stellen. Sheila Mysoreka vom Netzwerk neue deutsche organisationen spricht über das große Unbehagen migrantischer Communities in Deutschland angesichts der wachsenden Bedrohung von Rechts. Katja Maurer von Medico International beleuchtet die Hintergründe der jüngsten Krise in Haiti und zieht Lehren für den Westen.
In den sozialen Medien geht derzeit eine automatisch scrollende Liste mit Namen und Geburtsdaten vor schwarzem Hintergrund viral: In einer Endlosschleife wandern Namen von Kindern, die bei den israelischen Angriffen in Gaza ums Leben kamen, über den Bildschirm. Man wird aufgefordert, wenigstens so lange hinzuschauen, bis man ein Kind findet, das das zweite Lebensjahr erreicht hat. Tatsächlich flimmern vor den Augen zu lange Namen, die nicht einmal das erste erreichten. Es ereilt einen einer dieser flachen Schrecken, wie ihn die Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie wecken können. Fast die Hälfte der Toten in Gaza sind Kinder.
Um die tiefgreifende politische Veränderung in Deutschland zu begreifen, die sich in den letzten Monaten vollzogen hat, bedarf es eigentlich mehr als drei Minuten. Aber dieser Abend ist ein Puzzle und ich versuche ein Puzzleteil zu liefern.
Die deutsche Erinnerungspolitik ist ins Gegenteil ihrer ursprünglichen Absichten umgeschlagen.
In den sozialen Medien kursiert derzeit ein Video von 2010. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Historiker Fritz Stern unterhalten sich über Israel und sind sich einig, dass Merkels Satz von der „Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson“ eine nicht zu Ende gedachte deutsche Außenpolitik sei. Es gibt noch mehr, was die älteren Herren in unnachahmlicher Abgeklärtheit reden: Dass die israelische Politik gegen Völkerrecht verstoße und „unmenschlich“ (Stern) sei, dass Deutschland „keine Bündnisverpflichtung gegen Israel“ habe (Schmidt). Beim heutigen Diskussionsstand würde man vermutlich Helmut Schmidt Antisemitismus und Fritz Stern jüdischen Selbsthass vorwerfen. Vielleicht würde sich sogar der Antisemitismusbeauftragte genötigt sehen, Stellung zu beziehen.