Demokratie zurückerobern, Das Beispiel Chile

11. 9. 2023, Vortrag für die Politische Akademie Saarbrücken

Vielen Dank für die Einladung nach Saarbrücken. Ich bin auch deshalb besonders dankbar, weil Sie mich dazu gezwungen haben, die Chile-Erfahrung durchzuarbeiten.

Das ist ein persönlicher Vortrag. Ich bin Jahrgang 1957. Zum Zeitpunkt des Putsches in Chile, am 11. September 1973, war ich 16 Jahre alt. Für meine politische Generation war der Putsch in Chile das prägende internationale politische Ereignis. Im Niedergang der Willy-Brandt-Regierung, für die wir so geschwärmt hatten, im Schatten der Öl-Krise, die uns der Zukunftsaussichten auf eine gesicherte Karriere verhagelte, war die Allende-Regierung der Hoffnungsschimmer: Die uns notwendig erscheinende grundlegende Veränderungen könnten auf demokratischem Weg unter der Beteiligung so vieler doch erreicht werden. (Die Debatten auf den Straßen) Dass diese Hoffnung so gewalttätig zerstört wurde, war ein Signal weit über Chile hinaus.

Mich hat das Thema seither begleitet. Ich fand viele Freundinnen und Freunde aus dem Exil, die in Frankfurt lebten. Ich lernte Spanisch mit meinen Freunden, den Gedichten von Pablo Neruda, die zweisprachig vorlagen, und den Lieder von Violetta Para und Victor Jara. Den beiden großen chilenischen Volkskünstlern. Die eine brachte sich aus Liebeskummer um und schrieb trotzdem „Gracias a la vida“, dank an das Leben. Der andere wurde im Nationalstadion mit mehreren tausend anderen politischen Gefangenen  am 11. September festgehalten, schwer gefoltert und wenige Tage nach seiner Festnahme mit 40 Kugeln erschossen.

50 lange Jahre später wurden seine Mörder nun in Chile verurteilt. 50 lange Jahre, in denen darum gerungen wurde, juristisch festzuhalten, was recht und unrecht ist, was ein Menschenrechtsverbrechen ist und warum es bestraft werden muss. 50 lange Jahre, in denen seine Frau und seine beiden Kinder im Schatten dieses unaufgeklärten und nicht juristisch bestraften Verbrechens leben mussten.  50 lange Jahre, von denen 33 Jahre als demokratische Jahre gelten und die doch die Straflosigkeit nur mühsam und wenigen Fällen aufheben konnten.

Canto, qué mal me sales

Cuando tengo  que cantar espanto

Espanto como el que vivo

Como el que muero.

De verme entre tantos y tantos

Momentos de infinito

En que el silencio y el grito

Son las metas de este canto.

Das waren Zeilen eines letzten Gedichtes von Victor Jara, geschrieben im Nationalstadion und herausgeschmuggelt von Freunden.

Gesang, wie schlecht gelingst du mir

Wenn ich Schrecken singen muss

Schrecken, wie den, den ich erlebe,

und den ich sterbe

Mich zu erleben zwischen so vielen

Momenten der Unendlichkeit.

In denen die Stille und der Schrei

Ziel des Gesangs sind.

Was ich nun versuchen werde, Sie merken das schon, ist eine Rückschau auf die Ereignisse im September 1973, auf ihre paradigmatische Bedeutung bis heute. Ich will aber nicht einfach nur eine Rückschau machen, Daten und Fakten aufzählen, sondern diese Geschichte in den Kontext viele Kämpfe um eine erneuerte Demokratie und die Verwirklichung der Menschenrechte stellen, mich fragen: Was können wir aus dieser Geschichte lernen.

Aber, so paradox es klingt, geht es mir nicht um ein präzises Ergebnis, eine Handlungsanleitung. Erinnern und immer wieder Erinnern, ob als Ritual oder als Reflektion und Durcharbeitung, verfolgt seinen eigenen Zweck in sich. Beim Erinnern geht es um des Erinnerns willen. Ohne, dass ich mir Antworten erhoffen kann oder will.

Es gibt einen wunderbaren Dokumentarfilm des chilenischen Filmemachers Patricio Guzman.  Der Film von 2010 heißt Nostalgia de la Luz, Sehnsucht nach dem Licht. Er ist für mich ein Leitmotiv dieses Abends und der Beschäftigung mit der Erinnerung an die Wunder und die Katastrophen, die sich in einem abgelegenen Land, 4000 Kilometer lang auf der einen Seite vom Meer beschränkt auf der anderen von den Cordilleren der Anden.  In Nostalgia de la Luz beschreibt Guzman zwei Suchbewegungen in der chilenischen Atacama-Wüste. Dort steht das größte Teleskope der Welt, weil von der Südhalbkugel das Weltall besonders gut zu sehen und deshalb entsprechend beforscht werden kann. Junge Forscherinnen und Forscher suchen im All nach Spuren vergangener Sterne, deren Licht noch leuchtet. Nostalgia bedeutet auf Spanisch Sehnsucht oder Heimweh. Man könnte von einer Sehnsucht der Erinnerung sprechen: Ein verloschener Stern, der noch leuchtet.

Die zweite Suchbewegung, die Guzman schildert, betreiben fünf Frauen. Sie suchen seit 30 Jahren den steinigen Wüstenboden nach den sterblichen Überresten von politisch Verfolgten und Verschwundenen ab, deren Leichen  vermutlich hier aus Helikoptern von den Militärs abgeworfen wurden. Wie die Sternensucher sind auch die fünf Frauen Bewohnerinnen eines endlosen Raumes. Victor Jara spricht auch vom Infinito. Bei beiden geht es um die Bewegung der Suche, mehr als um das Finden.

Die suchende Erinnerung, die sich dem Gedanken einer zielführenden Nützlichkeit widersetzt, erscheint mir ein guter Rahmen für diesen Abend.

Als letzte Vorbemerkung möchte ich auf den Philosophen Walter Benjamin verweisen und seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ . Walter Benjamin ist unter Intellektuellen in Lateinamerika sehr beliebt, weil er bei allen engen Bezügen zum Marxismus immer auch Begriffe und eine Sprache für das Untergründige, das Surreale, das Messianische entwickelt hat. Er hat offenbar die richtige Sprache für die vom Siedlerkolonialismus geprägten lateinamerikanischen Gesellschaften gefunden. Sie beruhen auf einem seltsamen Pathos der Heimatlosigkeit oder des Heimatverlustes und einem ständigen Raubbau an der terra inkognita, also auf einer gewissen Beziehungslosigkeit, einem Nichtverhältnis zu ihrem Lebensort. In seiner zweiten These spricht Benjamin von einer Vorstellung des Glücks, in der „unveräußerlich die der Erlösung“ mitschwinge. Mit der verhalte es sich genauso. Es bestehe eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Und jetzt wörtlich: „Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“ Nirgendwo lässt sich dies besser beobachten als in Chile. Dort, wo von Generation zu Generation darum gerungen wird, die Geschichte in ihr Recht zu setzen, ein kollektives Gedächtnis zu gründen, dass die Monster Geschichte bannt. „Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen“, sagt Benjamin. Auch das ist eine schmerzhafte Feststellung mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen in Chile. Mit der Erarbeitung einer neuen Verfassung handelte es sich um den hoffnungsvollsten politischen Prozesse in der Welt zur Verankerung einer anderen politischen Kultur und neuer  verfassungsrechtlicher Normen, die den durch die Pinochet-Verfassung zum Grundsatz gemachten Neoliberalismus  hätte  zurückdrängen sollen. Am 4. September vergangenen Jahres wurde diese Verfassung mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Walter Benjamin hätte dazu gesagt: „ In jeder Epoche muss versucht werden, die  Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen… Der Feind hat zu siegen nicht aufgehört.

Allende Zeit – Das Unmögliche versuchen

Wenn wir von heute aus auf den Putsch 1973 blicken, schauen wir mit heutigen Fragen auf die damaligen Ereignisse. Und ich glaube, auch darin hat Chile etwas Paradigmatisches. Dieser Vortrag verhandelt die Demokratie, die heute so in Bedrängnis geraten ist. Genau um diese Fragen ging es bereits in der Allende-Regierung. Ist eine Demokratie denkbar und realisierbar, die mehr ist als die Aushandlung des politischen Tagesgeschäfts durch eine politische Elite, die zwar gewählt ist, aber die eigenen Machtinteressen hinter geschlossenen Türen verhandelt. Dazu ein Zitat des später gestürzten Präsidenten Salvador Allende über seine Regierungskoalition, die Unidad Popular: „Die Bedeutung der Unidad Popular liegt darin, dass sie ein Instrument des chilenischen Volkes ist und kein Ergebnis von Machenschaften irgendwelcher Politiker, die sich für persönliche Vorteile oder den nächsten Wahlsieg, darin verwickeln.  Wir müssen uns unserer historischen Verantwortung  bewusst sein, dass es uns entweder gelingt, einen Schritt vorwärts in Richtung einer authentischen Demokratisierung  zu gehen oder wir werden eine zivile Diktatur oder einen Militärputsch erleben.“ Das sagte er am 14 April 1970. Also noch vor seiner Wahl zum Präsidenten Chiles am  4. September 1970. Ich bin mir sicher, dass diese Frage, die Allende damals aufwarf, uns heute noch beschäftigen werden. Denn die Aushöhlung der Demokratie durch eine Elite, die sie nur noch verwaltet, um die Wirtschaft abzusichern, ist heute eine globale Frage von zentraler Bedeutung. Die Aufgabe die Politik als Instrument der Veränderung und nicht der Verwaltung wieder neu zu erfinden, steht nach wie vor.

Chile war damals ein hochpolitisiertes Land. Heute reden wir von Dekolonisierung, damals war die Entkolonisierung im globalen Süden die Aufgabe der Stunde. Die Entkolonisierungsprozesse in Afrika, die verknüpft waren mit der Forderung nach einer Umgestaltung der Welt und sich in der Erweiterung der Menschenrechtscharta um soziale Rechte und globale Umverteilung ausdrückte, ergänzten sich in Lateinamerika mit einer Vielfalt an Bewegungen, bewaffnete und linksdemokratische, die eine strukturelle Neugestaltung ihrer Länder verlangten. Sie wollten nicht länger Hinterhof der USA sein, sie wollten sozialistische Revolutionen, die sich aber nicht den real existierenden Sozialismus zum Vorbild nahmen, sondern ein tiefes Begehren nach Freiheit, aufgehoben in der Unabhängigkeit von den USA aber auch von der herrschenden zutiefst kolonialen Elite zum Ausdruck brachte. Auch hier in Deutschland hatte die  68er- Bewegung ähnliche Vorstellungen. Im Gegensatz zu den meisten Ländern in Lateinamerika, konnte sie hier tatsächlich gesellschaftliche Veränderungen erreichen, während dort die Militärs über viele Jahre an die Macht kamen, nicht nur in Chile.

Im Gegensatz zu den studentischen Jugendbewegungen, die sich in Argenitinien und Uruguay zum Beispiel Che Guevara zum Vorbild nahmen, und Stadtguerillas gründeten, ereignete sich die Politisierung Chile durch ein Erstarken der Gewerkschaftsbewegung, durch ein wachsende Bauernbewegung, durch starke linke Parteien, die sich im Radikalismus gegenseitig übertrumpften. Die Unidad Popular bestand aus der sozialistischen Partei (von Allende), der Kommunistischen Partei, aber auch kleineren linken, auch christlichen Parteien. Schon die Vorgängerregierung, noch von der christdemokratischen Partei geführt, die eigentlich einem sehr konservativen Katholizismus (Ihre Losung: Gott steht über den Parteien) anhing, hatte so etwas wie eine Agrarreform begonnen.  Bis in das konservative Lage hinein gab es Versuche eine größere Unabhängigkeit von den USA zu erlangen, die mit ihren großen Konzernen das Wirtschaftsleben in Ländern wie Chile bestimmten. Allende verdankt sich seinem Sieg auch der Tatsache, dass die Rechte in Chile gespalten war und er denkbar knapp mit 30.000 Stimmen vor dem rechten Kandidaten Alessandri und dem drittplazierten Tomasic von den Christdemokraten siegte.

Allende hatte keine Mehrheit im Parlament, obwohl die Unidad Popular bei den späteren Parlamentswahlen auf über 40 Prozent kam. Trotzdem legte die Allende-Regierung einen 40-Punkte-Plan vor, der sofort realisiert werden sollte. Neben symbolischen Aktionen, wie eine allgemeine Schulspeisung in Form von Milchverteilung, enthielt er auch radikale Maßnahmen, darunter die Nationalisierung ausländischer Konzerne, eine Vertiefung der Agrarreform, kostenlosen Bildung, die Einführung eines allgemeinen Rentensystems, die Besteuerung der hohen Einkommen.

Der spanische Politikwissenschaftler Joan Garcés, der selbst in dieser Zeit in Santiago weilte wie viele linke Intellektuelle aus der ganzen Welt, beschreibt das chilenische Experiment wie folgt: Die Besonderheit bestand darin, dass es „ eine Reihe grundlegender politischer, sozialer ökonomischer und militärischer Elemente in sich trug, die es zu dem modernsten  Experiment in den antikapitalistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts machte. Dazu  zählte die volle Gültigkeit der Demokratie für alle Sektoren, die Teil der Linksbewegung waren. Aber auch die Ablehnung des bewaffneten Kampfes um Konflikte zu lösen, die Bestätigung des Rechtsstaates als gültige Norm, und die Anerkennung aller individuellen Freiheitsrechte.“ So weit Garcés. Es war also tatsächlich erstmals ein Versuch das Prinzip die Freiheit eines jeden und jeder ist die Voraussetzung für die Freiheit aller, durchzusetzen, und zugleich mit Bildungen und Verstaatlichungen und Steuerreformen für die Umverteilung gerechtere Voraussetzungen für alle zu schaffen.

Die Allende-Regierung war ein unerhörter Akt gegen die herrschende kapitalistische Vernunft für eine wirkliche entkolonisierte Unabhängigkeit.

Warum glaubten sie damals, dieses Experiment wagen zu könnten, obwohl Allende von einer Wahlmehrheit nicht sprechen konnte. Hier muss man, wie ich eingangs schon versuchte, die damalige politische Weltkonjunktur berücksichtigen.

Gerade erst hat der algerische Journalist, Akram Belkaid in der Le Monde Diplomatique einen Rückblick auf die Zeit unternommen. ER erinnert in seinem Text an die Tagung der Blockfreien Staaten vom 5. Bis 9. September 1973 in Algier, an der Allende aufgrund der schwierigen politischen Lage in Chile schon nicht mehr teilnehmen konnte, obwohl er so sehr auf die Blockfreien zählte. Auf dieser Gipfelkonferenz forderten die Blockfreien nichts weniger als eine „neue Weltwirtschaftsordnung“ und ihr Recht auf Entwicklung. Ein Jahr später präsentierte der algerische Präsident Boumidienne auf der UN-Vollversammlung die „Erklärung über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung“ zusammen mit einem entsprechenden Aktionsprogramm. Da hatte sich Allende schon erschossen, um nicht den Militärs in die Hände zu fallen. Das chilenische Experiment war also eingebettet in eine globale Auseinandersetzung. Ganz bewusst hat sich die chilenische Unidad Popular nicht dem Ostblock angeschlossen, sondern auf die Dritte Kraft gesetzt.

Der Putsch

Der Militärputsch unter Augusto Pinochet am 11. September 1973, der unter beträchtlicher Mithilfe der damaligen US-Regierung und ihres Außenministers Henry Kissinger stattfand, reiht sich ein in die Kette von Interventionen des Hegemons in Lateinamerika, den USA. Zum Beispiel gegen den demokratisch gewählten Jacobo Arbenz in Guatemala, der sich in den 1930er Jahren erdreiste die United Fruit Company nationalisieren zu wollen. Der Putsch in Chile jedoch hat inmitten des Ost-West-Konflikts, der Anti-Block-Freien-bewegung, und starken kommunistischen Parteien in Westeuropa noch eine besondere Bewandtnis. Er beendete gewaltsam den demokratischen Weg zu grundlegenden Veränderungen. Die großen westeuropäischen kommunistischen Parteien wandten sich dem Eurokommunismus zu, der zu Recht Abstand zu dem Sozialismusmodell des Warschauer Paktes schuf, sich aber auch gänzlich der Realpolitik durch das Parlament zuwandte und andere Formen der demokratischen Repräsentanz entpolitisierte. Der Putsch hat die Frage, ob es noch eine andere Demokratie als die der liberalen Ordnung geben könnte, vorerst beantwortet. Das erweist sich heute als fatal. Denn das Misstrauen gegen die herrschende Politik, die sich demokratisch wählen lässt und dann nur das Bestehende verteidigt, hat – wenn man so will – das Begehren nach Veränderung den neuen radikalen Rechten überlassen.  Ich werde am Ende darauf zurückkommen.

Der brutale Terror, den die Militärs in Chile nach 1973 ausübten, ist bekannt. Dieser Terror bestand nicht nur darin tausende von Menschen zu ermorden und verschwinden zu lassen, sondern in einem System der Folter, dem ca. 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Fast keine Familie ohne eine oder einen Gefolterten. Die Folter erwies sich als das Herrschaftsinstrument der Wahl, um den aufbegehrenden Teil der Gesellschaft zum Verstummen zu bringen. Das ist nicht 100 prozentig geglückt. Denn es gab während der Diktatur immer wieder Jahre großer Massenproteste. Es gab eine Widerstandsbewegung, deren Zeitschriften an Kiosken verkauft wurden. Aber immer, wenn es der Diktatur zu weit ging, waren Folter und gezielte Morde ein Form des Staatsterrorismus, der überall  Nachfolger gefunden hat. Wenn ich zum Beispiel an den Assad-Clan in Syrien denke. Aber auch an die gezielten, oder wie es so schön heißt – extralegalen-  Tötungen im Krieg gegen den Terrror. Staatlich sanktionierte Folter verfügt zudem über eine Besonderheit, die man sich immer wieder klar machen muss. Hier foltert nämlich ein ganzer Staat ein Individuum. Macht und Ohnmacht sind hier also extrem ungleich verteilt. Und wer sich die Kämpfe der primera linea in den Zeiten des chilenischen Aufstands nach 2019 angeschaut hat, konnte feststellen, dass hierin noch einmal der Einzelne im Verbund mit anderen Einzelnen, der ehemals folternden Staatsmacht die Stirn oder schlimmer das Auge bot. Die Unerbittlichkeit der kleinen Siege, in Nebenstraßen Carabineros am weiterfahren gehindert zu haben, erklärt sich mir aus dieser Geschichte.  Der messianische Geist, wie Benjamin sagt.

Es gibt zwei Aspekte des Militärputsches, die mir für diesen Vortrag wichtig erscheinen. Einen möchte ich nur kurz erwähnen, nämlich dass der Putsch eben auch unheilige Allianz von Leuten faschistischer Gesinnung war. Ehemalige deutsche Nazis, die in den sehr rechten deutschen Gemeinden in Chile Unterschlupf fanden, waren sehr eng mit der Militärdiktatur verwoben. Die bekanntesten sind die Colonia Dignidad, die ein wichtiges Folterzentrum der Diktatur war, und in der Deutsche das Regiment führten. Einige davon konnten sich nach Ende der Diktatur nach Deutschland absetzen und sind nie vor Gericht gekommen. Da hat die deutsche Justiz eine gewisse Tradition des Wegschauens. Der andere emblematische Fall ist einer der führenden NS-Größen, Walther Rauff. Er setzte als erster Gaswagen ein, in denen hundertausende Juden ermordet wurden. Walther Rauff konnte nach Lateinamerika fliehen, über die vom Vatikan eingerichtete Route zur Rettung der Nazi-Größen. Der Journalist und Filmemacher Willy Huismann hat kürzlich in einer berührenden Rundfunkreportage an seine Verbrechen in Chile erinnert. Rauff wurde von Pinochet nach Chile geholt, er war über Jahre Agent des deutschen Geheimdienstes BND, wrude explizit zur Aufstandsbekämpfung in Lateinamerika eingesetzt, und wurde zum engsten Berater des Geheimdienstchefs Manuel Contreras in Chile. Er vermittelte Foltermethoden dem noch jungen chilenischen Geheimdienst , die schon die Nazis angewandt hatten. Das ist das Monster der Geschichte, das in Chile wieder auftauchte.

Rauff verstarb 1984 ungeschoren. Contreras wurde in Chile verurteilt, verbracht aber den großen Teil seiner Haftstrafe in einem eigens für ihn eingerichtete Luxusgefängnis.

Der zweite Aspekt ist die ökonomische Politik, deren weltweiter Siegeszug mit dem Putsch in Chile begann: Der Neoliberalismus. Naomi Klein hat Anfang der 2000er Jahre das Buch Schocktherapie geschrieben und sie u.a. am Beispiel  Chiles abgehandelt. Die Diskussionen um das Buch verbreiteten ein Klischee über Chile, das revidiert werden muss. Nämlich, dass sich neoliberale Wirtschaftsstrategen an die Macht geputscht hätte. Und dahinter der ganzen Sinn des Putsches liegt. Das ist eine Vereinfachung. Tatsächlich waren neoliberale Wirtschaftswissenschaftler zum Zeitpunkt des Putsches in Chile und unterrichteten an der katholischen Universität von Santiago. Sie waren aber keinesfalls bestimmend in der Wirtschaftspolitik. Wie gesagt, war das rechte und konservative Lager in Chile selbst gespalten. Die Idee der ökonomischen Unabhängigkeit war nicht nur eine linke. Weshalb übrigens auch Pinochet nie die Verstaatlichung des Kupfers zurückgenommen hat. Man muss wohl eher sagen, dass die Chicago-Boys, die dann in Chile unter Pinochet die Grundzüge einer neoliberalen Wirtschaftsordnung in die Verfassung von 1980 einschrieben, die Gunst der Stunde nutzten. Der chilenische Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Valdes hat ein ganzes Buch über die Wirtschaftsexperten von Pinochet verfasst. Er sagt, dass die politischen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Putsches, vor allen Dingen die Nationalisierungspolitik und die Agrarreform, die Tatsache, dass marginalisierte Schichten der Bevölkerung nun zunehmend politisch aktiv wurden, und die Möglichkeit einer sozialen Revolution real schien, bei den konservativen und rechten Unternehmensgruppen bis hinein in die Mittelschicht ebenfalls zu einer Radikalisierung führte. Wer sich erinnert: die Cazerlazos, wo  die Mittel- und Oberschicht auf leere Töpfe schlug. Das war deshalb bizarr, weil das Defizit künstlich durch den Streik der Lastwagenfahrer provoziert worden war, die ebenfalls Teil der radikalisierten Gegenkräfte waren. Es unterstützte den Putsch und verlangte nach einer Politik, die nun endlich mit dem demokratischen Ansinnen des gemeinen Volkes Schluss machen würde. Da kam die neoliberale Wirtschaftsideologie gerade recht. Die Abschaffung staatlicher Institutionen, die als Verwalter eines Gemeinwohls und als Orte der Umverteilung in Betracht kamen, war der erste Schritt auf deren Agenda. Die Privatisierung der Renten und Krankenversicherungen, der Bildung und eine Arbeitsmarktreform, die alle zuvor errungene Rechte aushebelte, schafften den politische Raum schrittweise ab. Alles wurde zu einer Frage der Wirtschaft. Die Gesellschaft war quasi abhängig geworden davon, dass die Wirtschaft läuft. Der Vorrang des Privaten vor dem Öffentlichen ist in der Pinochet-Verfassung von 1980, an die die Chicago-Boys wesentlich mitschrieben, festgelegt.

Die ökonomischen Umwälzungen, die diese durch und durch ideologische Wirtschaftspolitik, in Chile hervorrief, waren tiefgreifend. Es kam zu einem Verarmungsprozess und einer Wirtschaftskrise, die zwischen 1983 und 1985 zu Massenprotesten führten, die durch Staatsterrorismus, also durch Ermordung einzelner bekannter Figuren des Widerstands, beendet wurden. Berühmt ist der Fall der drei Degollados, drei Mitarbeiter des katholischen Solidaritätsvikariats, die man umbrachte und den Leichen die Köpfe abschlug. Nach den Erfahrungen des Putsches, der Folter, der Einrichtung von KZs  dem Verschwindenlassen, löste dieses Attentat eine große Angst unter den Oppositionellen aus. Es schloss die politischen Räume und zwang zu Kompromissen, an denen Chile bis heute leidet. Im Kollektiven Gedächtnis ist über Generationen die Erfahrung dieser 13 Diktaturjahre tief eingegraben

Der paktierte Übergang

Der Sturz der Pinochet-Diktatur war eben kein Sturz. Es war ein paktierter Übergang, der den Militärs noch lange Einfluss in der Politik sicherte. Es gibt in Santiago ein Museum der Erinnerung. Ein sehr schöner Bau, unweit eines schönen Parkes. Es werden sehr viele Geschichten von politisch Verfolgten erzählt und es wahrt die Erinnerung. Worum sich aber das Museum drückt, ist die die Frage der Straflosigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen, die in Chile trotz einzelner Verurteilung nach wie vor der Fall herrscht.  Es lässt den Kampf um eine Erinnerungskultur, die den Ereignissen adäquat ist, außen vor, verschweigt, dass die Angehörigen – Gruppierungen nach dem Sieg des Plebisizit von 1990, in dem Pinochet am Weiterregieren gehindert wurde,  in eine fatale Isolation gerieten. Man wollte die Opfer der Diktatur nicht hören, sie störten den paktierten Übergangsprozess. Die Ausstellung endet mit dem Sieg der NO-Kampagne, die also dazu aufrief mit Nein gegen weitere vier Jahre Pinochet-Herrschaft zu stimmen. Die Kampagne, die ganz knapp siegte, hatte den Slogan „ La alegria ya viene“. Die Freude kommt gleich.

Aber es kam keine Freude.

Es gab keine wirkliche Aufarbeitung der Verbrechen. Und, was noch schwerer wiegt, der unter Pinochet eingeführte Neoliberalismus, wurde von den nachfolgenden Regierungen unter Aylwin, Lagos, Michelle Bachelet, Pinera immer weiter vertieft. Den eigentlichen Siegeszug trat der Neoliberalismus nach 1990 an. Was die Chicago Boys als Ziele formulierten, wurde jetzt erst verwirklicht.  Die chilenische Sozialwissenschaftlerin Ana Cardenas Tomaciz beschreibt die heutigen Auseinandersetzung in Chile als eine zwischen „Sichtbaren“ und „Unsichtbaren“. Die Sichtbaren bewegen sich in den schicken Malls, haben das Geld für enormen Luxus auf höchstem Weltniveau, bauen sich gläserne Paläste in den Randbezirken Santiagos und schicken ihre Kinder auf die teuersten Schulen und Universitäten in Chile und im Ausland. Das Recht auf Entwicklung verwandelte sich in das Recht einiger wenige  ebenso reich zu sein wie die meritokratischen Schichten im Norden. Wir erinnern uns, Allende besteuerte die Reichen. Nun haben es die Reichen verdient reich zu sein. Sie müssen davon nichts abgeben, denn sie tun Gutes. Der Trickle-Down-Effekt, den der Neoliberalismus als Sozialmaßnahme verkaufte, war die Illusion, die lange hielt. Erst 2006 mit dem Aufstand der Oberschüler:innen wurde klar, dass nicht alle reich werden und vor allen Dingen nicht reich sind. Chile gehört zu den Ländern mit der tiefsten  Kluft zwischen Arm und Reich. Die Oberschülerbewegung und später die Studentenbewegung von 2011 machten die Illusion offenbar. Denn diese Bewegung verlangten öffentliche Bildung, weil die Eltern dieser SChüler und Studentinnen in einer Weise verschuldet waren, dass das ganze Familien und Sozialleben davon beeinträchtigt war und ist. Die Illusion teil zu haben an dem Boom in Chile, der vor allen Dingen durch die Privatisierung der Rente, also durch die Umverteilung der Gelder eines öffentlichen Rentensystems in ein privatwirtschaftliches finanziert wurde, wird in der Mehrheit der chilenischen Familien allein durch den Kredit genährt. Schon das Alltagsleben wird nicht nur vom Lohn, sondern durch vielerlei Kreditkarten finanziert. Schon hier beginnt die Verschuldungsspirale. Kommt noch die Bildung hinzu oder Krankheit. Dann wachsen die Schulden über den Kopf. Jetzt macht nicht nur die mögliche staatliche Repression Angst, jetzt sind auch die Schulden eine emminente Bedrohung für jeden Einzelnen.

Die Studierenden, die 2011 demonstrierten, hatten deshalb die Losung: Wir haben keine Angst mehr. Sie protestierten auch gegen die Angst, die zu  einem allgemeinen Lebensgefühl geworden war, und gegen die man nur mit dem kurzen Glück des Konsums angehen konnte.

Der estallido social, die soziale Explosion 2019, die erst mit der Covid-Krise zu Ende ging, war ein mächtiger Aufstand gegen diese Angst. Der Aufstand war auch ein Aufstand gegen die herrschende Politik, die nur den Status Quo verwaltete. Politische Parteien auch der Linken durften sich nicht mit ihren Fahnen und Losungen daran beteiligen. Die schwarze Fahne oder die Fahne der Mapuche waren das Symbol des Aufstands. Hier offenbarte sich „mi pais imaginario“ (mein Fantasie-Land), wie der eingangs erwähnte Patricio Guzman seinen letzten Dokumentarfilm über den Aufstand es nannte.

Die Covid-Krise zwang alle in ihre Häuser, warf jeden auf sich selbst zurück. Der politische Raum war wieder geschlossen. Dieses Land der Fantasie lebte noch einmal in dem verfassungsgebenden Prozess auf. Aber es gelang nicht, eine Mehrheit für den Versuch zu gewinnen, den Neoliberalismus in seine Schranken zu weisen. Heute arbeitet eine rechte und rechtsradikale Mehrheit an einer neuen Verfassung. Die Umfragen deuten darauf hin, dass auch dieser Verfassungsentwurf keine Mehrheit bekommen wird. Die alte Pinochet-Verfassung wird wohl weiter gültig bleiben. Die Anti-Politik, das Misstrauen in eine Möglichkeit eines anderen Chiles, hat gewonnen. Es bleibt beim neoliberalen System. Doch nur seine Überwindung, das schrieb Joseph Stiglitz erst kürzlich, kann die Demokratie retten. Das gilt nicht nur für Chile. Welche Lehren auch aus dem Scheitern des Verfassungsprozesses zu ziehen sind, die auch für die hiesigen Auseinandersetzungen relevant sein können, können wir gern in der anschließenden Diskussion klären.

Ich komme zum Schluss. Der Aufstand hatte eine Hymne. Es war das Lied von Victor Jara, el derecho de vivir en paz. Dieses Lied der Solidarität mit dem vietnamesischen Volk aus den 1970er Jahren wurde auf allen Straßen und Plätzen gespielt. Riesige Orchester intonierten es. Es war eine Erinnerung an die Zeit großer Hoffnung, dass der globale Süden die Welt gerechter gestalten könnte. Es erinnerte aber auch daran, dass das Leben im Neoliberalismus von einer großen indirekten Gewalt gekennzeichnet ist. Es war im Chile des Aufstands ein Lied gegen den inneren Krieg, den Militärs, Carabineros, aber auch die großen Finanzinstitutionen, die Chile heute beherrschen, dem sich so viele Menschen in Chile ausgesetzt fühlen. Doch der Feind hat zu siegen nicht aufgehört, schrieb Walter Benjamin. Der Anspruch an die Geschichte ist noch immer nicht eingelöst. Die Erinnerung an eine andere Möglichkeit aber lässt sich nicht auslöschen. Deshalb hier noch einmal zum Abschluss das Lied in der Fassung von Victor Jara.

Ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Ein letzter Versuch, der sich einreiht in die Entkolonisierungsbemühungen Afrikas. Mit Eine sozialistische Selbstbestimmung, die aus dem Kolonialen austritt ohne zur Waffe zu greifen. Was ging dem voraus: Die Ermordung von Lumumba im Kongo, die Schweinebucht in Kuba. Es war immer noch getragen von der Idee der Weltgestaltung durch ein anderes Beispiel. Le monde diplomatique: Der algerische Journalist Akram Belkaid:

Erinnert an die Konferenz der Blockfreienstaate, Anfang September 1973, an der Allende aufgrund der Umstände in Chile nicht teilnehmen konnte.  Und eine Bewegung auch von Teilen der bürgerlichen Kräfte, die auf eine eigenständige ökonomische Entwicklung setzten, gerade weil Lateinamerika durch den zweiten Weltkrieg als Hinterland der USA eher ökonomisch profitierte.

Präsidentschaft Frei bereits soziale Reformen. Sie economistas Pinochet

  • Deklaration der Menschenrechte und ihre Erweiterung durch die Entkolonisierten

Er hatte keine Chance, aber er nutzte sie.

  • Soziale Revolte Gewerkschaften, Bauernorganisationen
  • Polarisierung und Einheit der Rechten
  •   

Der Putsch und seine Folgen

Der Fall Rauff – die Rolle der deutschen Faschisten und ihre Verbindung zu Chile

Colonia Dignidad

Die Folter einer ganzen Gesellschaft.

Immer wieder Urteile aber Unterkunft im Luxusgefängnissen. Contreras Chef des Geheimdienstes war in Punta Peuco – eigens für ihn errichtet

Insgesamt 549 Jahre verurteilt

Der Neoliberalismus und seine Verschärfung nach ende der Diktatur

Der Widerstand der Jugend

Estallido social

Verfassungsprozess

Das wird ein Thema meines Vortrages sein.

Die Regierung der Unidad Popular unter Allende. Ihre Bedeutung für Lateinamerika und progressive Strömungen weltweit.

Der Militärputsch und seine Folgen auch über Chile hinaus.

Un pais imaginario , Enzo Traverso…

Bildquelle: BarbyBox, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

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