Mousonturm, Frankfurt, 19. Januar 2024
Guten Abend verehrte Anwesende,
Um die tiefgreifende politische Veränderung in Deutschland zu begreifen, die sich in den letzten Monaten vollzogen hat, bedarf es eigentlich mehr als drei Minuten. Aber dieser Abend ist ein Puzzle und ich versuche ein Puzzleteil zu liefern.
Die deutsche Gesellschaft hatte sich langsam, mit Mühen und vielen Rückschläge daran gewöhnt ein Einwanderungsland zu sein. Die staatlichen Institutionen sind diesem Weg nicht gefolgt und haben immer neue bürokratische Hürden aufgebaut, die in ihrer detailversessenen Abgefeimtheit an die Nürnberger Gesetze erinnern. Die Wirklichkeit der Einwanderung hat diese bürokratischen Mauern auf geheimnisvolle Weise immer wieder überwunden. Für mich, die ich biografisch nicht zur deutschen Mehrheitsgesellschaft gehöre und die ich zwischen Überlebenden der politischen und rassistischen Verfolgung der Nazi-Zeit groß geworden bin, war diese Entwicklung zu einer offenen, postmigrantischen Gesellschaft mein Einverständnis mit diesem Land. Das „Nie wieder“ war für mich die einzige Sicherheit von Bedeutung. Die Sicherheit nämlich, dass es nie wieder einen mehrheitsfähigen Rassismus in diesem Land geben könnte.
Waren die frühen Jahre Westdeutschlands geprägt von einer erschreckenden, durch die Nazis hergestellten Homogenität, in der niemand mit einer anderen Geschichte auffallen durfte, machte die Einwanderungsgesellschaft im Werden uns alle zu Fremden. Sie vergegenwärtigte uns, dass jede und jeder von uns sich zu allererst selbst fremd ist. Die Brüche, das gegenseitige Unverständnis, die Versuche in Gesprächen und Konflikten Brücken zu bauen, die bei ihrem wiederholten Einsturz alle Beteiligten zur Reflektion zwingen – stürzen uns in einen unaufhörlichen demokratischen Lernprozess. Das ist der Kern der offenen Gesellschaft, die es zu verteidigen gilt.
Und das soll nun anders werden?
Die politische Elite dieses Landes, die kein Angebot zur Lösung der politischen Herausforderung besitzt, will uns in ein erinnerungspolitisches Dogma zwingen, das große Teile der migrantischen Gesellschaft und viele Menschen mit jüdischem oder israelischem Hintergrund ausschließt und zensiert. Mit dem israelischen Krieg gegen zwei Millionen Menschen im Gaza, der durch keinen noch so brutalen Terror der Hamas zu rechtfertigen ist, und mit der Unterstützung des israelischen Vorgehens durch Deutschland und des Westens gegen den Rest der Welt, wird die Bekämpfung des Antisemitismus gegen die Einwanderungsgesellschaft umgedeutet und instrumentalisiert. Es ist kein Zufall, dass dies mit der radikalen Abkehr vom Menschenrecht an den europäischen Außengrenzen und im Umgang mit Geflüchteten einhergeht.
Hinter dieser politischen Elite, die mit ihrem zunehmend in den Krieg taumelnden Gut-Böse-Weltbild den Extremismus der Mitte verkörpert, sollen wir nun herlaufen und den Extremismus der Rechten bekämpfen? So einfach darf man es ihnen nicht machen. Nie wieder – heißt: Nie wieder für alle.