Vortrag in München am 30.11. 2024 – 30. Tagung isw-forum: „Weltordnung im Umbruch“

Sehr geehrte Damen und Herren, lieben Freundinnen und Freunde,
Ich habe mir für diesen Nachmittag zwei Fragen gestellt, die ich nicht beantworten kann, die aber meinen Beitrag durchziehen:
Welche Rolle spielt der globale Süden in einer multipolaren Welt, die am Rand eines/mehrere Kriege steht?
Und welche Rolle spielen die Verdammten dieser Erde, die Unsichtbar Gemachten in einer sich herausbildende neuen globale Ordnung oder Unordnung?
Dazu bedarf es einer Begriffserklärung. Wer oder was ist der globale Süden? Ich kann das nicht so sehr theoretisch, denn praktisch tun. Bekanntlich habe ich sehr lange bei einer politischen Hilfsorganisation gearbeitet und wir hatten möglicherweise eine sehr eigene Definition des globalen Südens. Es ging nicht nur darum den Süden geographisch und mit seiner Geschichte der Marginalisierung und Kolonisierung in den vergangenen 500 Jahren unter globalem Süden zu fassen, sondern auch die global-kapitalistischen Veränderungen der letzten 30 Jahre. Das Weltweitwerden des Kapitalismus hat zur Folge, dass sich der globale Süden und globale Norden sich nicht mehr nur räumlich definieren lässt. Globaler Süden kann sich geographisch im globalen Norden befinden. Fahrt mit der U-Bahn morgens um 6 und ihr begegnet dem globalen Süden. Die reichsten Personen der Welt kommen durchaus auch aus den geographisch im Süden befindliche Länder. Der Abschied von der rein geographischen Definition drückte sich auch darin aus, dass wir nicht mehr Armut in absoluten Zahlen anführten, um Umverteilungs- und Gerechtigkeitsforderungen zu stellen, sondern dass die Kluft zwischen Arm und Reich zum wesentlichen Ausgangspunkt der Armutsproblematik wurde. Damit ist nicht nur die Frage nach der weltweiten Umverteilung gestellt, sondern auch nach der Umverteilung und den Steuersystemen in den Ländern selbst. Zu den Begrifflichkeiten, die helfen, die Veränderungen der letzten mehr als 30 Jahre zu verstehen, gehört auch die von Brandt und Wissen entwickelte „imperiale Lebensweise“. Die imperiale Lebensweise bindet im globalen Norden die privilegierten Teile der Bevölkerung an die global herrschenden Strukturen, die den Süden in weiten Teilen Afrikas und Asiens auf erbarmungslose Weise zur Aufrechterhaltung der eigenen Lebensweise ausbeutet und gleichzeitig die Schäden, hier vor allen Dingen Klimaschäden externalisiert. Die Beschreibung von Ländern wie Deutschland als Externalisierungsgesellschaften nimmt Stephan Lessenich in seinem hervorragenden Buch „Nach uns die Sintflut vor“, das in seinen Grundthesen immer noch gültig ist. All diese Begriffe scheinen mir sehr hilfreich, um sich durch eine geopolitische Gemengelage zu bewegen, in der es keine Systemfrage mehr gibt, sondern unterschiedliche kapitalistische und imperiale Interessen der jeweils herrschenden Eliten. Mein politisches Instrumentarium, das noch aus der Zeit des Kalten Krieges, also der Systemkonkurrenz, und der unipolaren Ordnung unter der Hegemonie des Westens stammt, bewegt sich in dieser Zeit einer Multipolarität unter kapitalistischen Vorzeichen wie ein kaputter Magnet. Der Zeiger bewegt sich hektisch und orientierungslos hin und her. Gleichzeitig vollziehen sich die Veränderungen vor unseren Augen mit einer solchen Rasanz, dass Prognosen zu wagen, mir vermessen erscheint. Was gestern noch galt, gilt heute nicht mehr. Ein Beispiel. Ich war vorgestern bei den Adorno-Vorlesungen in Frankfurt. Eingeladen war der französische Soziologe Loic Wacquant, der sich dem Zustand der nördlichen Gesellschaften über die Gefängnisse und die Veränderungen im strafenden Staat nähert. Er hatte zwei frappierende Grafiken dabei. Eine zeigte die Entwicklung der Gefangenenzahlen seit 1980 bis 2020 – seine begründete These ist, dass die Neoliberalisierung und die ihr folgende Deregulierung ein Prekariat geschaffen hat, dass über Gefängnisse reguliert werden muss – Die Zahlen waren deshalb so aufschlussreich, weil Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern des globalen Nordens noch relativ gut abschnitt. Der Sozialstaat mit seiner integrierenden und nicht segregierenden Politik, so Wacquant, funktioniere hier noch besser als in vielen anderen Ländern. Dann zeigte er aber eine andere Grafik und die erschütterte alle Zuhörerinnen. Wacquant lehrt in den USA und es ist klar, dort sind Gefängnisse übermäßig rassifiziert. Afroamerikaner und Latinos sitzen überproportional zu ihrem Anteil der Bevölkerung in den Gefängnissen. Daraus ermittelt sich eine Zahl, die er dann mit entsprechenden Zahlen aus Europa vergleichen konnte. Und es stellte sich heraus, dass die westeuropäischen Länder, auch Deutschland, noch vor den USA liegen, was die Rassifizierung ihrer Gefängnisse anbetrifft. Das heißt hier werden überproportional noch mehr Menschen mit migrantischem Hintergrund in die Gefängnisse gesteckt als in den USA Afroamerikaner und Latinos. Dass die neoliberale Vereinzelung und Fragmentierung durch einen neu entstehenden Ethno-Nationalismus überwunden werden soll und dass das wunderbar in die neuen Zeiten des Kriegsregimes passt, hat schon vorauseilende Wirklichkeit in der deutschen Gefängnislandschaft. Der Staat ist schneller als die Gesellschaft.
Soweit zum Stand der imperialen Lebensweise in unserem Land.
Ich verwende hier das Wort Kriegsregime, was mir lieber ist als andere geopolitische Erklärungen. Ich kann das gern nachher noch mal ausführen.
Die Verdammten dieser Erde
Ich würde gern nun einen Blick auf die Weltverhältnisse werfen ausgehend von den Verdammten dieser Erde.
Jetzt könnte man gegen den Begriff einwenden, dass Frantz Fanon ihn damals auf die kolonisierten Völker bezog, die mittlerweile alle zumindest formal ihre nationale Souveränität erlangt haben. Ich würde aber bei dem Begriff mit Blick auf die Zukunft und vielleicht mit einer etwas anderen Kononation bleiben wollen. Denn die Dekolonisierung ist einerseits noch lange kein abgeschlossener Prozess. nicht im Süden, in dem sich vielfach eine Staatlichkeit herausgebildet hat, die die argentinische Anthropologin Rita Segato Parastaatlichkeit nennt. Diese Parastaatlichkeit, zu der auch das Paramilitärische gehört, ist laut Segato nach wie vor zutiefst von den kolonialen Verhältnissen im sozialen wie politischen Feld geprägt. Die Regierenden und die ökonomischen Eliten beherrschen und beuten die Bevölkerungen aus, mit ähnlicher Verachtung und ähnlichem Überlegenheitsdenken wie früher die Kolonialherren. Dass dies nicht nur der Dialektik aus Befreiung und erneuter Herrschaft geschuldet ist, sondern auch den internationalen Machtverhältnissen geschuldet ist, schildert Adom Getachew, eine äthiopische Sozialwissenschaflerin, in ihrem Buch „Die Welt nach den Imperien“ sehr detailliert. Sie verweist darauf, dass die antikoloniale Befreiungsbewegung in Afrika keineswegs die Idee von klassischer nationaler Souveränität hatten, die ja sondern mit den panafrikanischen Ideen eine Weltveränderung verband, die sich bis zur Blockfreien-Konferenz in Bandung auch in Worte und Forderungen ausdrückte.
Und vor allen Dingen ist der Entkolonisierungsprozess im Norden noch gar nicht richtig angekommen und heißt umkämpft. Von den Antisemitismus-Debatten, über die Entschädigung für den Völkermord an Herero und Nama im heutigen Namibia, bis zum Humboldtforum, erleben wir ein Kampf um Symbole, in dem sich weißes Überlegenheitsdenken als aufgeklärte Zivilität vor den Erkenntnissen der postkolonialen Forschung zu verteidigen sucht. Diese Auseinandersetzung ist heute das ideologische Schlachtfeld um eine künftige Ordnung.
Der kalte Krieg und letztlich die ökonomische Überlegenheit des Westens haben die sich befreienden Länder in die Schuldenknechtschaft und in das Korsett des Nationalstaates gezwängt, was koloniale Herrschafts- und Unterdrückungsmuster wieder aufleben ließ und sich nach 1990 mit einem ungeheuren ökonomischen Aufstieg von Eliten und auch Bevölkerungen vor allen Dingen in Asien aus dem Süden vergoldete. Emanzipatorische Prozesse hingegen verlagerten sich bis auf den südafrikanischen Verfassungsprozess weg von der nationalen Befreiung auf soziale Bewegungen. Die Sozialforen und die globalisierungskritische Bewegung waren dabei durchaus wirkmächtig. Sie verloren aber letztlich die vielleicht entscheidende Schlacht, wie Arundhati Roy sagte, als es nicht gelang den Krieg der USA und ihrer Koalition der Willigen gegen den Irak 2003 zu verhindern, womit der sog. Krieg gegen den Terror vollends Fahrt aufnahm. Dessen Bedeutung, neben den ökonomischen, sozialen und politischen Verheerungen, die er im sog. Nahen und Mittleren Osten auslöste, für die Formierung von einem unüberbrückbaren Freund-Feind-Denken, für das drohende Scheitern der liberalen Demokratien kann nicht überschätzt werden. Niemand hat das so prophetisch und genau beschriebene wie der Philosoph Achille Mbembe in seinem 2016 erschienen Buch „Politik der Feindschaft“, das noch im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Zwei Jahre später wurde er wegen seiner kritischen Haltung zur israelischen Besatzungspolitik mit Antisemitismus-Vorwürfen als Eröffnungsredner der Ruhr-Triennale gecancelt. Seither tritt einer der wichtigsten postkolonialen Denker, der an einem planetarischen Denken arbeitet, nicht mehr in Deutschland auf und publiziert auch nicht mehr. Schon deshalb werden wir hier zur Provinz. Er stellt in seinem Buch unter anderem fest, dass die Grenzen keine Linien mehr sind, die man überquert, sondern die trennen. Sie schaffen millitarisierte Räume, in denen alles zum Stillstand komme, so Mbembe: „Zahllose Menschen finden dort ihr Ende; sie werden deportiert, falls sie nicht einfach ertrinken oder an tödlichen Stromstößen sterben.“ Der Gleichheitsgrundsatz werde sturmreif geschossen, was sich in der Zerstückelung der Staatsbürgerschaft, also deren Zerfall in eine reine (einheimische) und erworbene, die prekär ist, zeigt und nicht vor Aberkennung schützt. Seine Schlussfolgerung: Damit hat sich der Krieg nicht nur in der Demokratie sondern auch in Politik und Kultur als Zweck und Notwendigkeit etabliert. Die Gesellschaften hätten den Weg der Demokratie verlassen und sich in Gesellschaften der Feindschaft verwandelt.
Heute erleben wir hautnah, wovon er 2016 schon sprach.
Niemand kann sagen, dass dieser Prozess der unüberwindbaren Feindschaft unaufhaltsam ist, oder ob er auf die Ausweitung der Kriege hinauslaufen wird. Aber dass wir mitten in einem Einwanderungsland die Renaissance eines ethnisch orientieren Staates erleben, der sich autoritär und mit erheblichen Beschneidung von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit und des Rechts auf HIlfe durchzusetzen sucht, ist nicht von der Hand zu weisen.
Dabei ist auch nicht ausgemacht, ob die als Verdammte vorgesehenen auch die Verdammten bleiben werden. Das Ende des westlichen Afghanistan-Einsatzes war eine nach fast 20 Jahren Militäreinsatz höchst empfindliche Niederlage des Westens gegen die Taliban. Und ob die Verdammten ihr Recht auf Widerstand noch mit einer emanzipatorischen Idee von Befreiung verknüpfen, ist ebenfalls nicht ausgemacht. Auch das lässt sich am Beispiel der Taliban erahnen.
Dauernde Sicherung
Nicht erst seit dem 7. Oktober, dem Hamas-Überfall auf den Süden Israels, ist aber klar, dass der Westen in der multipolaren Welt, mit der er nun konfrontiert ist, seine Hegemonie mit fast allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen sucht. Die Entscheidung für eine Politik der dauernden Sicherung, wie sie seit dem Krieg gegen den Terror angelegt ist, ist nun mit der Unterstützung des israelischen Feldzuges in Gaza gefallen. Den Begriff der „dauernden Sicherung“ entnehme ich dem Denken des australischen Genozid-Forscher Dirk Moses. Er setzt die „dauernde Sicherung“ als Motiv für die schonungslose Vernichtung von Zivilbevölkerung bis hin zum Genozid an die Stelle des „Hassverbrechens“. Also entgegen der landläufigen Lesart des Holocausts als „Hassverbrechens“, der mit diesem Begriff des Hassverbrechens entkontextualisiert, singularisiert, unvergleichlich gemacht und entpolitisiert wird. Unter der ‚dauernden Sicherung‘ ist „eine Praxis“ zu verstehen, in der eine Gruppe von Menschen – Zivilist_innen – kollektiv und präventiv als Sicherheitsbedrohung ins Visier genommen wird“ (S. 94f). Moses, so schreibt der deutsche Sozialwissenschaftler Urs Lindner, „unterscheidet dabei zwischen liberaler und antiliberaler dauernder Sicherung. Letzterer geht es darum, vorbeugend Gefahren von einer Ethnie, Nation oder Religion abzuwenden, indem ganze Gruppen zielgerichtet vernichtet werden, gerade auch Kinder als zukünftige Bedrohungen (S. 78ff.). Erstere bekämpft dagegen „Feinde der Menschheit“ und normalisiert die massenweise Tötung von Zivilist_innen beziehungsweise ihre Inkaufnahme zu „Kollateralschäden“ (82ff.). Wer denkt bei ersterem nicht an den Krieg in Gaza und bei letzterem nicht an den Krieg gegen den Terror? Auch das Putin – Regime verwendet ähnliche Argumentationen, um seinen Angriff gegen die Ukraine und die ukrainische Zivilbevölkerung zu legitimieren. Moses schlägt das Motiv der „dauernden Sicherung“ als Kontext für die Möglichkeit genozidaler Verbrechen vor und trifft damit meiner Ansicht nach einen Kern imperialer Politik, der sich nun in den innerimperialen Konflikten neu herausbildet. Insofern ist der Gaza-Krieg, der nicht zuletzt ein Vernichtungskrieg gegen die Kinder und gegen die palästinensische Zukunft ist, ein Menetekel. Wir wachsen hinüber von der liberalen Auffassung der dauernden Sicherung zur illiberalen. Universalismus und Menschenrechte, die der Westen für sich als Teil seines Projektes der Moderne beanspruchte und mit denen er seine zivilisatorische Überlegenheit deklarierte, werden aufgegeben. Stattdessen werden, wie Mbembe schon sagte, die Grenzen fest gezurrt unter Aufgabe jeder Humanität.
Die Geschichte steht auf dem Spiel
In dieser Konstellation steht die Geschichte selbst auf dem Spiel, die Geschichte der Revolution, die Geschichte der Emanzipation
Ich möchte das kurz am Beispiel Haitis erzählen.
Ich beschäftige mich seit dem Erdbeben 2010 mit Haiti. Ich fuhr mehrmals im Auftrag von medico international dorthin und habe zum ersten Mal wirklich im vollen Umfang verstanden, wie rettungslos koloniales Denken und rassistische Vorurteile alle Handlungen der NGOs und der internationalen staatlichen und suprastaatlichen Akteure gegenüber der Regierung oder den Bewohner:innen Haitis durchziehen. Die Kritik des postkolonialen Denkens an dem tief sitzenden weißen Überlegenheitsdenken zeigte sich dort in tausend Details. Das wäre ein eigener Vortrag. Die Gewissheit des neoliberalen Denkens, das seinen vorläufigen Sieg für das Ende der Geschichte hielt, zeigte sich in Haiti nach dem Erdbeben in einer vollendeten Ignoranz gegenüber Geschichte und Gegenwart des Landes und seiner Bewohner. Vollkommene Deregulierung des Staates, der Infrastruktur und die Durchführung von Wahlen, die dann von der wichtigsten Hegemonialmacht USA gefälscht wurden, waren das Generalrezept. Das Ganze begleitet von einer humanitären Intervention, also einer sogenannten Peacekeeping Mission durch die UN, die täglich eine Million Dollar kostete. Haitianer kommen in einem solchen Konzept als Handelnde nicht vor.
Das Erdbeben hatte, ihr erinnert euch vielleicht, eine weltweite Solidarität mit Haiti ausgelöst. Im Ergebnis sind 80 Prozent der zusammengekommenen privaten Spenden und Mittel durch Staaten in die Geberländer zurückgeflossen. NGOs und UNO zerstörten die einheimische Zivilgesellschaft und machte die Menschen zu Hilfsempfängern. Die putschähnliche Beseitigung der gewählten Regierung und der Zwang zur Durchführung von Wahlen ein Jahr nach dem Erdbeben, das die fast die ganze Hauptstadt zerstört hatte, brachte endgültig eine mafiotische Politik an die Macht, die unter dem Label Haiti is open for business, alles zu Geld macht und sich und seine Verbündeten Unternehmen zum Beispiel in der benachbarten Dominikanischen Republik bereicherte.
Wahrscheinlich ist allen bekannt, was heute in Haiti geschieht. Das Land ist in weiten Teilen in den Händen von Gangs, die eng verzahnt sind mit eben jenen Politikern, die die humanitäre Intervention an die Macht gebracht hat. Diese Gangs sind extrem brutal, vertreiben Menschen zu Hunderttausenden und haben eine unübersehbare Macht. Sie stürzten den letzten vom Westen anerkannten Premierminister Ariel Henry. Sie verhindern bislang erfolgreich den vielleicht letzten Versuch der westlichen Hegemonie in der eigenen Hemisphäre mittels humanitären Intervention eine Polykrise zu begrenzen. Von der UNO genehmigt versuchen die USA verzweifelt, eine von Kenia geführte Polizeimission ins Land zu bringen und zu halten, die die Gangs bekämpfen soll. Doch alles, was da unternommen wurde, scheitert. Niemand weiß mehr ein noch aus.
Film ab
Wir sehen hier (‘Haiti on Fire’ Dives Into the Country’s Deadly Gang War)Jimmy Chérizier, der schlimmste Verbrechen zu verantworten hat. U.a. das Massaker in La Saline, einem armen Stadtteil in Port au Prince, 2018, bei dem ca. 70 Menschen ums Leben kamen und Frauen vielfach vergewaltigt wurden. Die Kollegen vom Menschenrechtsnetzwerk RNDDH, das medico heute noch unterstützt, haben es damals detailliert dokumentiert. Es diente dazu im Auftrag des später ermordeten Präsidenten Moise, eine große transnationale Jugendbewegung zu beenden, die die Verurteilung der Politiker verlangte, die sich nachweislich an Erdbebengelder bereichert hatte. Ein Detail ist dabei interessant. Die Petrocaribe-Bewegung bezog sich allein auf Erdbebengelder aus Venezuela. Alle anderen Erdbebengelder, sei es von Staaten oder NGOs wurden so intransparent gehandhabt, dass die lokale Bevölkerung keine Chance hatte ihre Verausgabung zu kontrollieren. Nur die venezolanischen Gelder waren jenseits des Hilfsbusiness offiziell an die haitianische Regierung übergeben worden und die hatte auch so getan, als hätte sie die Gelder entsprechend eingesetzt. Junge Leute im ganzen Land wiesen dann nach, dass nichts davon stimmte. Es gab einen Senatsbericht und erste juristische Schritte gegen führende Politiker. Sozusagen die Mani pulite Haitis. Um Druck aufzubauen gab es im ganzen Land Demonstrationen, Massengebete in Kirchen, eine breite Informationskampagne im Internet. Das oben erwähnte Massaker in La Saline unter Chérizier setzte dem ein Ende. Die USA und die westlichen Verbündeten unterstützten weiterhin die Regierung, die hinter dem Massaker stand. Das ist der Beginn der Gang – Gewalt, die heute Haiti beherrscht.
Aber wenn man dem Massenmörder Jimmy Chérizier im Film zuhört, so ist er heute vielleicht neben meinem Freund und Kollegen Pierre Èsperance vom Menschenrechtsnetzwerk, der einzige, der in seinen Aussagen das politische Momentum richtig erfasst. All die militärischen und politischen Interventionen sind nutzlos, denn sie wollen die Krise nicht lösen. Sie wollen lediglich Haiti zum Aufnahmelager abgeschobener Flüchtlinge machen. Das möglichst geräuschlos. Das in etwa ist die Botschaft von Chérizier. Pierre Èsperance würde mit ihm übereinstimmen, aber er würde seine Chériziers Festnahme und Verurteilung zur Voraussetzung eines selbstbestimmten haitianischen Wegs machen. Pierre steht auf der Todesliste von Chérezier, versseht sich. Und das ist sehr ernst zu nehmende Bedrohung. Chérezier könnte vielleicht der erste Drohnentote werden, den eine künftige Fernkriegsführung nach dem Vorbild von Gaza in Haiti verursacht.
Haiti, die einst reichste Kolonie Frankreichs, ist das Land der Überflüssigen par excellence. Haiti ist es nicht deshalb, weil es zum Kapitalismus gehört, dass Überflüssige produziert werden, sondern aufgrund seiner revolutionären Geschichte, die den Universalismus überhaupt erst zu einem legitimen Vorschlag für eine vernünftige Weltordnung gemacht hat. Wie man diese Postkolonie verarmte, marginalisierte und zum Verschwinden aus jeder Wahrnehmung brachte, ist mittlerweile Dank der postkolonialen Studien ausreichend erforscht. Ja, und ein verspäteter Sieg der Geschichte: In der Ausstellung „Was ist Aufklärung“ im Deutschen Historischen Museum hängt ein Bild des haitianischen Revolutionsführers Touissent L`Ouverture, der in einem französischen Gefängnis starb.
Warum ist Chérizier für mich so wichtig, wenn wir über Weltordnung und globaler Süden reden. Nun Chérizier ist eine der Figuren, die heute für die Unterbrechung steht, mit der wir nur schwer zurechtkommen, selbst wenn wir noch radikale Linke wären. Denn im Zweifel unterbrechen Figuren wir er oder islamistische Hamas mit Aktionen, die menschenverachtend sind, den Gang der Dinge auf unerwartete Weise. Die Tatsachen, sagt Sartre, sagen weder Ja noch Nein. Ich rede also weder von einer Hoffnung, noch von einer positiven Entwicklung. Aber der Gang der Dinge bewegt sich auf einen oder mehrere große Kriege zu, die vielleicht nicht ausbrechen, aber die Gesellschaften formieren werden. Der Gang der Dinge läuft auf eine Klimakastrophe zu, die durch keine revolutionäre noch reformistische Politik der kleinen Schritte gemäßigt geschweige denn aufgehalten wird. Das große Konsumversprechen des neoliberalen Kapitalismus, das sich in der jüngsten Meldung aus Indien, dass auch Menschen knapp über der Armutsgrenze Aktienbesitzer sind, als so unschlagbar zu erweisen scheint, ist angesichts des anzunehmenden Laufs der Dinge für viele nicht mehr aufrecht zu erhalten. Autoritarismus und Entdemokratisierung ist der Zug der Zeit.
Wir beschäftigen uns hier mit den Fragen sich verändernden Weltordnung und der Rolle des globalen Südens. Ich glaube, dass wir entlang der staatlichen und suprastaatlichen Strukturen manches, aber nicht alles entdecken können. Und Vorhersagen lassen sich noch viel weniger machen. Außer wir reduzieren alles wie John Mearsheimer auf Geopolitik. Das hat seinen Reiz als Erklärung. Aber da gibt es keine Emanzipation, keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keine Geschichte im emanzipatorischen Sinne. Ich würde eher dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze zustimmen, der kürzlich einen Vortrag in der New School in New York hielt und dabei eine seiner geliebten Grafiken zeigte. Diese bestand nur noch aus einem Wirrwarr an Linien, Vektoren und fragwürdigen Zeichnungen, die er zu folgender Schlussfolgerung zusammen führte: „History as giant nonlinear outcome generator with wicked convexities. In plain English there is no mean, there is no average, there is no return to normal. It´s one way traffic into unknown.” Es ist eine Einbahnstraße in das Unbekannte. Es stammt von dem schottischen Sozialwissenschaftler Mark Blyth.
Ich widerspreche also sofort wieder meinem eigenen Bild vom anzunehmenden Lauf der Dinge. Dieser Lauf sieht ja auch nur von hier, von Westeuropa aus, so aus. Und das ist wahrlich ein eingeschränkter Blick, der vor allen Dingen auf schöne Zeiten zurückschaut, die nun offenkundig hinter uns liegen und in denen wir uns doch auch eines großen Selbstbetrugs befleißigt haben. Denn das privilegierte Wir glaubte die Zeit spiele für die Vernunft und übersah, die Unvernunft der herrschenden Verhältnisse und ihre unsichtbar gemachten Opfer.
Die machen sich jetzt sichtbar. Auf eine grauenhafte Weise. Aber die Überwindung der Unsichtbarkeit, so kennzeichnend für den Krieg gegen den Terror, ist vielleicht der Griff in die Notbremse, die Unterbrechung, die doch nicht anders sein kann als die Privilegierten verstören.
Gleichheit in der Negativität
Deshalb möchte ich mich zum Schluss an Enzo Traverso halten, der gerade ein 80 Seiten Büchlein über den Gaza – Krieg verfasst hat und dabei auch versucht den Hamas-Angriff anders einzuordnen, als das hierzulande üblich ist. Er bedient sich dabei eines Textes des Auschwitz-Überlebenden Jean Amery, der ein mich prägendes Buch geschrieben hat: Jenseits von Schuld und Sühne. Dieser Text, den Traverso zitiert, beschäftigt sich mit Fanon und dessen Idee von der befreienden revolutionären Gewalt, die keine Rache sein dürfe. Das Zitat von Amery leider rückübersetzt aus dem Englischen lautet:“ Freiheit und Würde müssen auf dem Weg der Gewalt erlangt werden, sollen sie Freiheit und Würde werden. Wieder: Warum? Ich fürchte mich nicht, hier das tabuisierte und abgelehnte Konzept der Rache einzuführen, das Fanon vermeidet. Gewalt der Rache im Gegensatz zur Gewalt der Unterdrückung schafft eine Gleichheit in der Negativität: im Leiden. Repressive Gewalt ist die Ablehnung der Gleichheit und so eine des Herren. Revolutionäre Gewalt ist emminent menschlich.“ Dann schlägt Amery als Spekulation vor den Gewaltbegriff bei Fanon zu erweitern: Die Unterdrückten, die Kolonisierten, die Häftlinge der Konzentrationslager müssten die Füße der Unterdrücker sehen, um Menschen zu werden. Erst das also, die Gewalt der Rache, ermögliche ihnen eine revolutionäre Gewalt, die zugleich menschlich ist.
Wir befinden uns historisch möglicherweise in dem Moment, da der globale Süden Gleichheit in der Negativität herstellt. Nicht nur in Fragen der Gewalt, sondern auch in Fragen der Vernutzung von Natur und Ressourcen, und in Fragen des Überkonsums. Was daraus folgen wird, ist offen. Im Stück von Milo Rau „Antigone im Amazonas,“ in dem mithilfe der griechischen Tragödie die juristisch bis heute nicht belangte Ermordung von Aktivisten der Landlosenbewegung im Amazonas als Theater wieder in Szene gesetzt wird, sagt der Seher, gespielt vom indigenen Philosophen Ailton Krenak: Vor dem Tod habe er keine Angst, denn er und seinesgleichen seien schon seit 500 Jahren tot und immer noch da. Sorgen machten ihm die Menschen in der alten Welt, denn sie seien noch nicht gewöhnt an die Apokalypse.
Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit. Die eines radikalen Universalismus und die Möglichkeit eines planetarischen Subjekts und Bewusstseins. Dazu zu zum Schluss noch einmal Achille Mbembe: