Vom Umgang mit der Krise und hilft radikaler Antikapitalismus? Vortrag im Rahmen der Tagung „Leben am Rande von Krieg und Zivilisationskrise“ von Kairos E.V. (15.11.2024)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
als ich mit diesem Vortrag beschäftigte, fragte ich mich, ob es überhaupt gelingen kann, geschweige denn mir, in dieser Zeit, in der alle Gewissheiten umstürzen, einen konsistenten Vortrag zu halten. Das, was ich vortrage, ist also lediglich ein Versuch der Annäherung. Ich werde hier weniger über den Kapitalismus reden, jedenfalls in einem offensichtlichen Sinne, sondern eine Krisenbeschreibung und einen möglichen Umgang damit versuchen.
Vor dem Ausbruch der Corona-Krise, die mit einer höchst zweifelhaften Ermächtigung des Staates bewältigt wurde, vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, vor dem vernichtenden Feldzug Israels gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza und die schiitische im Libanon hätte man noch einen positiven Ansatz versuchen können. Ich hätte mich auf die weltweite Bewegung Fridays for Future bezogen, die nicht nur ein Ausdruck der Zukunftsangst einer jungen Generation angesichts der Klimakatastrophe war, sondern mit der Forderung nach Klimagerechtigkeit auch ein gerütteltes Maß Antikapitalismus und dekoloniales Denken in sich trug. Ich hätte auf die Versuche der globalen Zivilgesellschaft verwiesen, in transnationalen Abkommen Steuergerechtigkeit im globalen Rahmen herzustellen. Ich hätte vielleicht auf das in der EU beschlossene Lieferkettengesetz als kleinen Erfolg hingewiesen, das Firmen zwingt Menschenrechtsverletzungen in den Lieferketten offenzulegen und zu bekämpfen. In Nachbesserungen wurde sogar erreicht, dass die Betroffenen daran beteiligt werden müssen. Ich hätte die De-Growth-Bewegung gefeiert, die mit ungeheurer Verve und Praxisbezug den kapitalistischen Grundsatz, dass nur Wachstum – zur Not – eben grünes Wachstum, unsere Wirtschaften aufrecht erhalten und damit unser Lebensstandard sicher kann, in Zweifel zieht und die konkrete Möglichkeit eines anderen Lebens auslotet. Ein Leben, das frei ist von den Zwängen der Entfremdung, der Selbsterziehung und der Anpassung an die kapitalistische Lebensweise. Ein utopischer Überschuss mit radikaler Praxis – der da zelebriert wird. Vor Corona hätte ich ihnen von dem vielleicht hoffnungsvollsten Umwälzungsprozess der Welt in Chile erzählt, als Jugendliche aus den armen Vorstädten und die Generation der Allende-Zeit, ihre Kinder und Kindeskinder versuchten die Geschichte zurückzuholen und den in Chile besonders brutalen Neoliberalismus in Regierung und Wirtschaft zu stürzen Ich hätte ihnen erzählt von einer Aktivisten-Gruppe in New York, die sich Planet over Profit nennt, und die wie damals die Initiativen gegen die Apartheid, wöchentlich vor der Zentrale der Citibank demonstriert und gemeinsam mit unterschiedlichen Initiativen von Haiti bis Palästina von jung bis alt, die Dekarbonisierung ihrer Investitionen fordert.
Zurück an die Arbeit
Nach dem Wahlsieg von Donald Trump sagte die wunderbare Sängerin Patti Smith. Das Wehklagen nutze nichts. Man müsse zurückgehen an die Arbeit. Insofern also: alles, was ich aufgezählt habe, sind gültige Versuche des Weitermachens, des Weiterarbeitens. Allerdings unter zwei großen Einschränkungen.
- Die Klimakatastrophe schreitet voran. Und niemand hält sie auf. Weder im Rahmen kapitalistischer Bemühungen, noch gar in Überschreitung der kapitalistischen Wirtschaftsmodelle. Und alle wissen es. Gerade hat UN-Chef Guterres eine seiner vielen aufrüttelnden Reden gehalten und daran erinnert, dass die Zeit für die Einhaltung des in Pariser Klimaabkommen vereinbarten 1,5 Grad-Zieles abläuft. „Die Reichen verursachen die Krise“, sagte er, „die Armen zahlen“. Es wird so kommen. Vielmehr: Es ist schon so gekommen. Die Weltweitwerdung des Kapitalismus schreitet unaufhaltsam voran. Das sah man auch in Baku, wo der Präsident des Landes Ilhal Alijew nach dem Auftritt aserbaidschanischer Säbeltänzer, erklärte, dass Öl und Gas ein „Geschenk Gottes“ sein und kein Klimaabkommen sie daran hindern könnte, den Stoff zu verkaufen. In Indien besitzen selbst Menschen, die am Rand der Armutsgrenze leben, Aktien und studieren die Börsenkurse.
- Alle Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die ich zuvor mit großer Sympathie und stellvertretend für die Idee aufgezählt habe, dass die Bewegungen, die Multitude in der Lage sein könnte, eine emanzipatorische, menschenrechtlich grundierte, sozialökologische Wende herbeizuführen, sind gegen eine dicke, unüberwindliche Mauer gelaufen. Die autoritäre Wende in der Politik, die mit Corona von sich und ihrer Möglichkeit erfahren hat, verhandelt nicht mehr mit linken oder radikalreformerischen Kräften. Sie lässt sich höchstens von rechtsaußen treiben. Die liberale zuweilen linksliberale Hegemonie, die Möglichkeiten für radikalere Politiken zu bieten schien, ist zu Ende. Wenn Trump vereidigt wird, werden wir wohl ein Europa erleben, das sich gegen Geflüchteten und gegen Russland aufrüstet. Ein Europa, das sich von den Klimazielen endgültig verabschiedet, und den afrikanischen Kontinent mit neokolonialen Praktiken überzieht, um seinen Energiebedarf zu decken. Ein Europa, das sich über antimuslimische Ressentiments ideologisch neu konstituiert. Dieses Europa wird – wie es aussieht – von einer nach rechts gedriftete Mittelschicht unterstützt, weil sie so ihre privilegierte Lebensweise zu verteidigen sucht.
Allmachtsphantasie
Mit der autoritären Wende in Europa, die sich vor unseren Augen rasant vollzieht, und der turbokapitalistischen Machtergreifung eines Trumps, der angetreten ist die öffentliche Verwaltung und die Institutionen des Rechts , die noch rudimentär vorhandenen öffentlichen Güter in den USA zu beseitigen, setzt sich eine Allmachtsphantasie ins Werk. Allmachtsphantasie, so lehrt uns die Psychoanalyse, ist die Kehrseite der Depression. So viel Angst uns als Bewohnerinnen der privilegierten Zonen diese autoritär-populistisch und faschistuide Entwicklung zu recht macht, so wenig wird das in anderen Teilen der Welt ernst genommen. Der Westen hat seine Hegemonie verloren, die er seit 1990 ausübte. Das Versprechen von Demokratie und Menschenrechte für alle hat sich spätestens seit dem „Krieg gegen den Terror“ in eine Sicherheitsdoktrin verwandelt, die die westliche Vorherrschaft zum Maß hat, und die selbst Völkermord im Namen der eigenen Sicherheit rechtfertigt. Das, was in Gaza passiert, und dem wir ungerührt oder ohnmächtig zuschauen, ist ein Menetekel auf die Zukunft.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf den australischen Genozid-Forscher Dirk Moses verweisen. Er setzt die „dauernde Sicherung“ als Motiv für die schonungslose Vernichtung von Zivilbevölkerung bis hin zum Genozid an die Stelle des „Hassverbrechens“ , womit häufig der Holocaust singularisiert, unvergleichlich gemacht und entpolitisiert wird. Unter der ‚dauernden Sicherung‘ ist „eine Praxis“ zu verstehen, in der eine Gruppe von Menschen – Zivilist_innen – kollektiv und präventiv als Sicherheitsbedrohung ins Visier genommen wird“ (S. 94f). Moses, so schreibt der deutsche Sozialwissenschaftler Urs Lindner, „unterscheidet dabei zwischen liberaler und antiliberaler dauernder Sicherung. Letzterer geht es darum, vorbeugend Gefahren von einer Ethnie, Nation oder Religion abzuwenden, indem ganze Gruppen zielgerichtet vernichtet werden, gerade auch Kinder als zukünftige Bedrohungen (S. 78ff.). Erstere bekämpft dagegen „Feinde der Menschheit“ und normalisiert die massenweise Tötung von Zivilist_innen beziehungsweise ihre Inkaufnahme zu „Kollateralschäden“ (82ff.). Wer denkt bei ersterem nicht an den Krieg in Gaza und bei letzterem nicht an den Krieg gegen den Terror? Auch das Putin – Regime verwendet ähnliche Argumentationen, um seinen Angriff gegen die Ukraine und die ukrainische Zivilbevölkerung zu legitimieren.
Ich lese, diese Bereitschaft zur „dauernde Sicherung“, wie Moses das nennt, nicht als Zeichen der Stärke. Denn der israelische Krieg in Gaza und seine Unterstützung durch den Westen hat ihm im Rest der Welt die letzte Glaubwürdigkeit entzogen.
Was sich auf ideologischer Ebene vollzieht, zeigt sich auch in der ökonomischen Wirklichkeit. Die BRICS-Staaten gewinnen zunehmend an ökonomischer Bedeutung. China hat die USA als größte Volkswirtschaft überholt. Die Gründung der New Development Bank (NDB) durch die BRICS zeigt ihr Bestreben, alternative Finanzierungsquellen für Entwicklungsländer zu schaffen. Ihr wachsender Einfluss auf globale Lieferketten und Rohstoffmärkte ist unübersehbar. China ist zum Beispiel der größte Exporteur weltweit geworden. Die BRICS-Staaten streben eine Neuordnung des globalen Wirtschaftssystems an, um den Interessen der Schwellen- und Entwicklungsländer mehr Gewicht zu verleihen. Zudem ist die neoliberale Ordnung, die seit 1990 das ökonomische Rezept war, um die Dominanz des Westens zu sichern, seit der großen Krise 2008/2009 so tief in ihrem Fundament erschüttert, dass völlig offen ist, wie sich das Kapital angesichts von Klimakrisen und solchen Erschütterung wie Covid vielleicht doch auch bändigen lassen muss, will es überleben. Zur Erinnerung im New Deal nach dem großen Crash war eine Steuer für die Reichsten von 90 Prozent des Einkommens denkbar und machbar.
Auch militärisch sitzt der alte Hegemon nicht so fest im Sattel, wie die Zahl der weltweiten Militärbasen vermitteln mag. Der Abzug aus Afghanistan, der Sieg der Taliban verweist auf die Schwäche. Und nun haben Banden, Milizen und eine aus der Kontrolle geratene Elite in Haiti noch den letzten Versuch zunichte gemacht, einen Konflikt mittels sogenannter humanitäre Intervention zu befrieden, zu nicht gemacht. Auch hier gilt es daran zu erinnern, dass sogenannte humanitäre Intervention, mit und ohne Billigung der UNO, seit 1990 das bevorzugte Mittel der Wahl war, und die mit ihr einher gehenden NGOisierung der lokalen Gesellschaften, um die Hegemonie zu sichern und Konflikte nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Es wird sie auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Jedenfalls nicht unter Führung der USA. Wir erleben also, ein Abstieg des Westens, ein Aufstieg neuer kapitalistischer Mächte. Der Abstieg des Westens wird, wie es aussieht, nicht friedlich von statten gehen. Menschenrecht und Völkerrecht, wie auch immer halbherzig vertreten, sind nun frei von jeder Bezugnahme zu westlicher Hegemonie. Hier liegt die Zukunftsaufgabe emanzipatorischer Kräfte sie radikal neu in Besitz zu nehmen.
Doch erst einmal erleben wir die Zeit der Monster. Wie Gramsci einst sagte. Die alte Welt liegt in Scherben und die Neue ist noch nicht geboren. „ Es ist die Zeit der Monster“.
Kriegsregime oder die Zeit der Monster
Ein Ausdruck ist das Kriegsregime, unter dem wir seit dem russischen Angriff auf die Ukraine leben. Dieses Kriegsregime bestimmt die Sprache der Politik, die Öffentlichkeit und gefährdet Demokratie, Freiheit und Emanzipation.
Der spanische Philosoph und Aktivist, Raul Sanchez Cedillo, hat den Begriff des Kriegsregimes zu Beginn des Ukraine-Kriegs in seinem Buch „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“ zum ersten Mal verwendet. Er bezog ihn vor allen Dingen auf die veröffentlichte Meinung, die schneller als die kriegerische Entwicklung vor Ort eine Wende hin zu einer moralisch aufgeladenen Uniformität vollzieht. Das Kriegsregime vereindeutigt komplexe Zusammenhänge. Das Kriegsregime verändert sowohl in Russland wie im Westen den öffentlichen Diskurs und fordert Kriegstauglichkeit ein. Das Kriegsregime schafft wieder eine Sprache und damit ein Gefühl der Macht. Das Kriegsregime, sortiert vor allen Dingen klar in Gut und Böse. Es ist so verführerisch, weil es im Grunde seit dem Ende des Kalten Krieges die Grundfigur ist, mit der sich die Hegemonie jenseits des Rechts definiert. Das vermeintlich radikal Böse, das durch Hitler und Nazi-Vergleiche definiert wird, reicht aus, um sich als das Gute, als das gute Gegenüber zu definieren. Das gilt übrigens auch für Putin, der schließlich ebenfalls Nazi-Vergleich bemüht, um seinen Krieg zu rechtfertigen.
Die Definition des radikal Bösen entspringt einer Sichtweise auf die Nazi-Verbrechen als Hassverbrechen, denen eine reine Irrationalität zugeschrieben wird. Daraus entwickelte sich eine Ethik, die der französische Philosoph Alain Badiou die „Ethik der Menschenrechte“ nennt, die das Gute aus dem radikal Bösen ableitet, die also selbst keinen Vorschlag, geschweige denn eine Wahrheit braucht: Außer der, sich gegen das radikal Böse zu wenden. Das war und ist die Legitimationsgrundlage der westlichen Hegemonie, die die eigene Politik nur noch als Reparaturbetrieb am „Ende der Geschichte“ versteht. Der Status Quo, also die Wiederherstellung der Hegemonie, ist es, worauf alles politische und am Ende auch militärische Handeln des Westens zustrebt. Es gibt keine andere Idee. Die Entkontextualisierung des „Bösen“ als Verkörperung des reinen Hass ist dafür fundamental.
Dieses so geartetete Kriegsregime unter der liberalen kapitalistischen Weltordnung, so Raul Sanchez, taumelt wie vor dem Ersten Weltkrieg, in den Krieg. Und zwar nicht, weil es den Krieg wollte, einen bösen Plan verfolgte, sondern weil es unauflöslich mit der Verteidigung des hegemonialen Status Quo verbunden ist. Heute ist Krieg so alternativlos geworden wie der Kapitalismus.
Zu Recht werden manche von Ihnen einwenden, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine ein Völkerrechtsbruch ist, dass die russische Kriegsführung schwere Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat, und dass die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung hat. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Aber wie in allen Kriegen heute überlagern sich in einem Konflikt unterschiedliche Interessen und nicht eingelöste Geschichte. Es gibt darin eine Ökonomie, die Kriegsökonomie, und eine Pathologie, in der alles zum Vorschein kommt, was nicht bearbeitet wurde. Wo können wir das besser beobachten als hier in Deutschland, in Russland, oder auch in den USA, wo man den Eindruck hat, dass die Geschichte des Bürgerkriegs zurückkehrt.
Autoritäre Antisemitismusbekämpfung
Nicht anders als pathologisch kann man das nennen, was eine Allparteien-Koalition inklusive der Afd betreibt, um mittel autoritärer Antisemitismus-Bekämpfung endlich einen Schlussstrich unter die deutschen Verbrechen machen zu können. Es ist frappierend zu sehen, wie Export-Deutschland seine Beziehungen in die Welt riskiert, um sich von dem Makel zu befreien. Dieser Prozess der Provinzialisierung von Deutschland hat mit dem BDS-Beschluss des Bundestages begonnen und ist mit der gerade verabschiedeten Antisemitismusresolution noch lange nicht vollendet. Dass der Widerstand renommierter Antisemitismusforscher und Rechtswissenschaftler, ja selbst eine kritische Berichterstattung in den Leitmedien nichts gegen eine Resolution ausrichten konnte, die den Antisemitismus auf die muslimische Einwanderer projeziert und die verfassungsrechtlichen Grundlagen Deutschland in Frage stellt, ist beeindruckend. Diese Beschlüsse, die rechtlich nicht bindend sind, aber doch von der Einwanderung bis zur Vergabe von Mitteln für Kultur oder politischen Diskurs, von der Einstellung in Medien bis zur Ernennung von Professuren Entscheidungsgrundlagen bilden, stellen eine „Schattenverfassung“ dar, wie es der Vorsitzende der demokratischen Juristinnen und Juristen, Andreas Engelmann schrieb. Denn was der Bundestag beschlossen hat, ist eigentlich verfassungswidrig. Denn es widerspricht dem Gebot der freien Rede. Um es aber juristisch nicht durchfechten zu müssen, habe man, so der Jurist, es in die Form einer Resolution gegossen.
Die einst von unten und gegen eine Mehrheit, die einen Schlusstrich unter die Vergangenheit wollte, durchgesetzte Erinnerungskultur ist mit ihrer in staatliche Gebote und Verbote gegossenen Form, wie sie sich auch in dieser Resolution zeigt, zu dem geworden, was sie nie sein wollten: Zur Vergangenheitsbewältigung. Sie ist so weit bewältigt, dass Deutschland nicht mehr in der Verantwortung der Täter steht, es kann sogar zum Ankläger im Falle von Antisemitismus werden, ohne sich dabei nach der eigenen Sprechposition zu befragen. Nicht „Nie wieder“ ist jetzt, sondern „Schlussstrich“ ist jetzt. Das gilt für das Regierungshandeln und für die meisten Medien, auch im staatstragenden intellektuellen Diskurs ist die NS-Vergangenheit mit der Externalisierung des Antisemitismus bewältigt. Es ist, als ob die Adenauer-Zeit wiederauferstanden wäre, nur etwas queerer und frauenfreundlicher.
Dieses autoritäre Projekt erscheint mir deshalb so wichtig auch im Rahmen des Kriegsregimes, weil etwas von oben durchgesetzt wird, obwohl es in der Gesellschaft aus unterschiedlichen und manchmal prekären Gründen keine Mehrheit besitzt. Erneut (nach Covid) ermächtigt sich der Staat gegen seine Bürgerinnen und Bürger. Es gibt in diesem Fall keine Aushandlungsprozesse und keine demokratische Öffentlichkeit mehr, die beteiligt wird. Jetzt, da wir Vergangenheitsbewältigung statt Erinnerungskultur haben, ist auch das Demokratie-Projekt des alten Westdeutschland zu Grabe getragen worden.
Was heißt das alle für eine emanzipatorische Politik, eine Politik, die auf Befreiung des Einzelnen von der kapitalistischen Entfremdung und auf globale Gerechtigkeit setzt. Eine Politik, an der ich doch unbedingt festhalten will?
Emanzipatorische Überlegungen heute
Ich habe mich darüber vor zwei Wochen in einem Gespräch für das medico-Rundschreiben unterhalten mit Barbara Unmüssig, die jahrelang Chefin der Heinrich-Böll-Stiftung war, mit Pirmin Spiegel, bis vor kurzem Geschäftsführer von Misereor und Radwa Kaheld-Ibrahimi, die bei medico für die kritischen Nothilfe verantwortlich ist. Sie können es ausführlich im Dezember-Heft des medico-Rundschreibens nachlesen. Wir waren uns einig darüber, dass wir uns in einer Zeit des Umbruchs befinden, der in die Apokalypse oder in neue Formen der Emanzipation führen kann. Dass wir über keine Sprache verfügen, um die Schrecken der Gegenwart, das Sterben in Gaza und im Sudan zum Beispiel, zu sprechen. Dass wir unsere Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten mit globalen Gerechtigkeitsinitiativen, mit Hilfen zum Beispiel, die wir als vorweggenommen Umverteilung betrachteten, gescheitert sind. Wir konnten, um mit Habermas zu sprechen, die „Welt nicht um Winziges besser machen oder auch nur dazu beitragen, die stets drohende Regression aufzuhalten.“ Pirmin Spiegel, der bei diesem Gespräch aus dem Norden Brasilien zugeschaltet war, berichtete von der dortigen Caritas-Chefin Lucineth. Sie habe von einer Schönheitspolitik und der Verteidigung kurzfristiger Interessen gesprochen. Wir seien mit unseren Politiken nicht einmal in der Nähe der Ursachen der Krise gekommen, also den Kolonialismus und seine Folgen sowie der Glaube an unumschränktes Wachstum.
Wo also befinden sich in diesen auf Krieg zusteuernden katastrophalen Zeiten die Lücken, die Risse, durch die das Licht herein scheint. Sie erinnern sich an eines der letzten Lieder von Leonard Cohen: There is a crack in everything, where the light shines in.
Nun, wahrscheinlich genau dort, wo es nicht darum geht, die Definitionsmacht über Gut und Böse – auf Seiten des Westens oder gegen den Westen – zu erringen. Als ein Riss, durch den das Licht dringt, erweist sich die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof zur Verhinderung eines Völkermords in Gaza. Die juristischen Vertreter:innen der Klage waren eben nicht Vertreter einer Macht, sondern repräsentierten das über allem stehenden Recht. Und zwar nicht nur als Juristinnen und Juristen, die ihre fachliche Kompetenz des Rechts nutzten, sondern als Menschen, die biographisch selbst die Kämpfe um ein für alle gleich gültiges Recht repräsentierten. Sie sind ausgewiesene Kämpfer:innen gegen die Apartheid, sie stehen in der Post-Apartheid symbolisch für die, die um die Gültigkeit der neuen südafrikanischen Verfassung für in der Praxis ausgeschlossene Gruppen ringen. Ich habe lange für die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international gearbeitet. Und bei der südafrikanischen Klage in Den Haag stellte sich heraus, dass wir einige Rechtsvertreter Südafrikas seit vielen Jahren kennen und mit manchen von ihnen seit langem in den unterschiedlichen Auseinandersetzung um Recht und Gerechtigkeit gearbeitet haben. Im Namen eines Staates sprachen sie zugleich im Namen derer, die gegen die Apartheid unter großem Risiko für ihr eigenes Leben kämpften. Recht, auch Völkerrecht muss errungen und erkämpft werden. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte des Internationalen Gerichtshofes klagte hier auch eine antirassistische, transnationale und dekoloniale Bewegung und eignete sich ein Recht an, das bis dato eine bestehende Ordnung verteidigte.
In der Auseinandersetzung um die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof zeigt sich, wie sehr auch das Internationale Recht nun ein Kampffeld des Kriegsregimes geworden ist. Denn es geht zum Beispiel in den Interventionen der deutschen Regierungen, nicht darum, ob bestimmte Begriffe wie der Vorwurf des Völkermords angemessen sind, um die Kriegsführung Israels im Gaza-Streifen zu beschreiben. Es geht einzig und allein darum, jede Form von Klage gegen Israel oder einen anderen Staat der westlich dominierten Ordnung vor einem der Gerichte des Internationalen Rechts zu bestreiten. Die deutsche Seite hatte auch mit all ihr zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln verhindert, dass es zu einer Aufnahme völkerstrafrechtlicher Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der ebenfalls in Den Haag ansässig ist, gegen palästinensische Militante und israelische Streitkräfte wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen in anderen Fällen als dem Gaza-Krieg kommt. Noch nachdem die Vorverfahrenskammer des IStGH 2021 festgestellt hatte, dass der Gerichtshof – entgegen der israelischen und der deutschen Darstellung – sehr wohl Jurisdiktion in den besetzten palästinensischen Gebieten hat, erhob die Bundesregierung öffentlich Widerspruch. Insofern ist die Klage Südafrikas, egal zu welchem Richterspruch es am Ende kommen wird, ein Riss durch den das Licht dringt. Ein Riss im Kriegsregime, das eigentlich keine Herrschaft des Rechts kennt, soweit es seine eigenen Interessen berührt.
Menschenrechte: Wir können sie nicht nicht wollen
Wie das internationale Völkerrecht sind auch die Menschenrechte bei aller gegenwärtigen Aushöhlung unbedingt zu verteidigen. Wir können diese „nicht nicht-wollen können“, so die indische Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak. Schließlich sind sie der Rahmen, der uns befähigt, die Freiheit und Gleichheit aller, an jedem Ort und zu jeder Zeit, zu fordern. Angesichts der berechtigten Kritik müssen wir aber den hiesigen westlichen Menschenrechtsdiskurs und die damit einhergehende Praxis durchleuchten, die Widersprüche in den Postulaten offenlegen, die sich als universell behaupten, und doch auf eurozentrischen und noch immer vom Kolonialismus geprägten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Machtverhältnissen und Denkmustern beruhen.
Rechte werden nie verschenkt, sondern stets durch einen Prozess der Aushandlung, der Organisierung und Mobilisierung von Aktivist:innen und breiten Bevölkerungsschichten erkämpft. Es geht also um Solidarität und Widerstand. Diese zwei fundamentalen Begriffe sind aus unserem Diskurs über Menschenrechte verschwunden. Sie gehören wieder dorthin.
Fazit
Wenn das Kriegsregime, wie ich am Anfang behaupte, auch entstanden ist aus einem Gefühl der Ohnmacht im Angesicht der politischen und ökologischen Herausforderungen, dann gibt es für Selbstgewissheit derer, die es kritisieren, keinen Grund. Solange Angst vor dem Krieg der einzige Grund ist, warum man vom Frieden redet, bleibt auch das nur eine schale Formel, die für jeden faulen Kompromiss reicht. Hauptsache Frieden – ist eine Losung, die nicht begreift, dass es sich dabei nur um den eigenen Frieden handelt. Auch sie verteidigt einen unwiderbringlich vergangenen Status Quo der Privilegierten. Wenn wir hier von Völker- und Menschenrecht sprechen, um einen Rahmen für eine zukünftige Ordnung abzustecken, dann reden wir von der Notwendigkeit der Neugründung eines, wie der Philosoph Omri Boehm sagt, „radikalen Universalismus“. Der Verpflichtung also auf ein Recht und Gerechtigkeit, die für alle Bewohner:innen dieser Erde als über allem stehenden Prinzip gleichermaßen gilt. Dieser radikale Universalismus verlangt jedem politischen Handeln eine Kompromisslosigkeit ab, die den herrschenden Pragmatismus in Frage stellt.
Radikaler Universalismus und die deutschen Außengrenzen
Wenn es von hier aus, also von einer privilegierten Zone aus, eine Front des radikalen Universalismus gibt, dann sind das die europäischen Außengrenzen, die zum Teil weit in den afrikanischen Kontinent vorgelagert wurden. Diese Grenze ist der Ort, wo die Auseinandersetzung um einen möglichen Frieden, einen unerreichbaren Sieg-Frieden oder die Neugründung einer globalen universalistischen Rechtsordnung, ausgetragen wird. Hier steht die Herrschaft des Rechts, das Recht zu gehen und zu bleiben, zur Disposition. Wenn wir einen Frieden wollen, der für alle gilt – und nur so ist Frieden möglich – ist diese Grenze und der Wille im Namen des Universalismus, sie für die Fluchtsuchenden zu öffnen, der Lackmustest unserer Friedenstauglichkeit.
Zum Schluss noch eine Idee zum Rettenden. Das Rettende liegt für mich in der Haltung des Erkennens und der Erkenntnis.
Im Netz kursiert ein wunderbares Gespräch mit dem schon lange verstorbenen französischen Philosoph Gilles Deleuze über die Frage des Linksseins. Deleuze ist ein Philosoph des Werdens und des Ereignisses. Nur sie öffnen die Gegenwart und machen sie empfänglich für ein zukünftiges Geschehen, für das unerwartet Neue. Für das Rettende. Die Interviewerin ist eine schöne, junge Frau, die man kurz im Spiegel sieht. Auf ihre Frage was ist links? Antwortet Deleuze ungefähr so. Es ist eine Frage der Wahrnehmung. Nicht links ist, wenn man von seiner Postadresse ausgeht. Wenn man erst bei sich selbst anfängt, danach die Straße, in der man lebt, sieht, dann die Stadt, das Land, und schließlich die andere Länder. Bei sich selbst anfangen zu können, ist ein Privileg. Das heißt, man lebt in einem reichen Land. Man ist nur damit beschäftigt, sich zu fragen, was man dafür tun kann, diese privilegierte Lage zu sichern. Man weiß doch, dass das nicht so bleiben wird. Linke sollten anders herangehen, meint Deleuze. Sie sollten es machen wie die Japaner. Sie sehen erst den Kosmos, dann die Welt, danach den Kontinent, danach die Straße und danach die eigene Postadresse. Und dann sich selbst. Also erst muss man den Horizont sehen. Als Linker weiß man, dass es sich nicht aufrechterhalten lässt, dass neben uns Menschen an Hunger sterben. Die absolute Ungerechtigkeit lässt sich nicht aufrecht erhalten. Als Linker versteht man, dass man diese absolute Ungerechtigkeit lösen muss. Es geht nicht um technische Fragen, sondern darum dass die Privilegien Europas nicht aufrecht erhalten werden können. Ein Linker weiß, dass die Probleme der Dritten Welt uns näher sind als die Probleme in unserer Straße. Das ist keine Frage der guten Seele, sondern der Wahrnehmung und der kritischen Haltung.
Das planetarische Subjekt
Deleuze Herangehen deckt sich mit dem Vorschlag der politischen Philosophin Susan Buck-Morss, die sich angefangen bei der haitianischen Revolution von 1792, bis zu den Aufständen des letzten Jahrzehnts mit den emanzipatorischen beschaftigt. Ich hörte sie an der New School in New York, an der schon Hannah Arendt unterrichtete. Susan Buck-Morss sagte, dass die ökologische Zerstörung ein planetarisches Subjekt schaffe, mithin die Notwendigkeit eines planetarischen Bewusstseins und eines planetarischen Handelns. Nichts könne man mehr auf nationaler Ebene bewältigen. Auch identitäre Unterschiede seien zwar als Form von Kritik bedeutsam, aber sie böten keinen politischen Veränderungsansatz mehr. Man müsse heute den klassischen Satz „global denken, lokal handeln“ umkehren in: Global handeln, lokal denken.
Kleiner ist das Rettende, meiner Ansicht nach nicht zu haben. Und wir befinden uns in einem Suchprozess, was das möglicherweise bedeuten kann. Ein Erkenntnisprozess ist also nötig, der sich unserer planetarischen Gegenwart kritisch annähert, also auch die eigenen politischen Fehler und Katastrophen in den Blick nimmt.
Heute heißt Handeln deshalb auch und möglicherweise vor allen Dingen, Räume wie diesen hier zu erhalten und Räume zu schaffen, in denen Verständigungsprozesse stattfinden können, in denen die eigene Geschichte und die Fehler durchgearbeitet werden. Ich denke da an Ereignisse wie den estallido social in Chile oder die syrische Revolution, die anzeigen, dass eine Wende eintreten kann, und man besser vorbereitet sein muss, um sie zu nutzen. Sie waren Unterbrechungen. Unterbrechungen sind jederzeit wieder möglich. Darauf sollten wir uns so gut wie möglich vorbereiten. Ich bin gespannt auf die Diskussion hier, die möglicherweise im Zugriff auf Begriffe aus der Befreiungstheologie den Horizont eher weiten kann als das Leute wie ich aus der traditionellen Linken kommend vermögen.
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